Bodennahe Perspektive auf Löwenzahn und Traubenhyazinthen entlang eines Zauns auf einem städtischen Kiesweg – Beispiel urbaner Vegetation.
Interviews, 4. September 2025

5 Minuten

Der Professor und die (Stadt)Wildnis – was wir von Prof. Dr. Jürgen Breuste lernen können (Teil 2)

Porträt eines lächelnden Mannes mit Brille, grauem Bart und blauem Halstuch vor Berglandschaft und blauem Himmel.
Prof. Dr. Jürgen Breuste
Prof. Dr. Jürgen Breuste ist Stadtökologe und Geograph. Er gründete und leitete 20 Jahre lang die Arbeitsgruppe Stadt- und Landschaftsökologie an der Paris Lodron Universität Salzburg und ist seit 2024 Seniorprofessor an der Universität Hildesheim im Fachbereich Geographie. Dort beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit Stadt- und Landschaftsökologie. Stadtnatur ist für ihn ein Herzensthema – zu dem er auch mehrere Bücher verfasst hat, etwa „Die wilde Stadt – Stadtwildnis als Ideal, Leistungsträger und Konzept für die Gestaltung von Stadtnatur“.
Anmerkung der Redaktion: Das Interview mit Prof. Dr. Breuste haben wir aufgrund seiner Länge in zwei Beitrag aufgeteilt. Dies ist Teil 2.

Welche Projekte oder Kommunen würden Sie als „Best Practice“ für die erfolgreiche Integration von StadtWildnis bezeichnen?

Es gibt ein paar gute Beispiele überall. Drei, die ich eindrucksvoll finde, sind:

Das Südgelände in Berlin, eine alte Bahnbrache, auf der sich die Natur wieder frei entwickeln darf. Die Artenzusammensetzung, die es dort inzwischen gibt, ist anders als in allen anderen natürlichen Wäldern Berlins.

Ein weiteres Beispiel ist aus Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt: Die Stadt war Teil des Projekts „Städte wagen Wildnis“. In Dessau wurden nach dem Mauerfall eine Menge Gebäude aus der DDR-Zeit abgerissen – so sind freie Flächen entstanden. Zunächst wusste man nicht, was man damit machen soll – und dann kam die Idee, auf diesen Flächen Wildnis zu wagen. Ein wichtiger Unterschied zum Südgelände in Berlin: In Dessau sind diese Flächen gemanagt, denn man möchte die Pflanzen auf einer eher niedrigen Höhe halten, so dass Menschen die Flächen nutzen und begehen können.

Ein drittes gutes Beispiel ist aus meiner Sicht die Isar-Renaturierung in München. Wenn Flüsse renaturiert werden, bietet das den Menschen in der Stadt eine schöne Möglichkeit, auch mal längeren Strecken entlang einer wilderen Fläche zu gehen und sie zu entdecken.

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Frankfurt hat sich getraut: Der Mut zur StadtWildnis wird mit spannenden Flächen belohnt: Nordpark Bonames (Frankfurt). Foto © Meike Schulz
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Totholz in der Nidda im Nordpark Bonames. Foto © Meike Schulz

Wie stellen sie sich die ideale wilde Stadt der Zukunft vor?

Im Magazin National Geographic wurde einmal benannt, dass in einer „idealen Stadt“ 50 % der Fläche verwildert sein sollten. So richtig begründet haben die Autoren diese Zahl allerdings nicht. Ich halte von solchen Zahlen nichts. Man muss jede Stadt individuell betrachten: Manche haben Feuchtgebiete, andere haben Hügel, manche haben Waldflächen, einige sogar richtige Berge. Die Voraussetzungen für das Entstehen von StadtWildnis sind also völlig unterschiedlich.

Generell wichtig ist aus meiner Sicht, wilde Flächen nicht nur an den Stadträndern zuzulassen, sondern gerade auch in den bewohnten Gebieten. Nur so können Menschen die neuartige Natur auch erleben und von ihr profitieren.

Das heißt, es ist eine individuelle Entscheidung, wo und wie die Wildnis in einer Stadt eingeplant wird?

Genau. Das betrifft auch die Frage, welche Art von Wildnis, welchen Grad von Wildnis man zulässt. Es beginnt bei den Pflasterritzen und endet bei einem Vorwald, der sich über Jahre hat entwickeln können. Klar ist: StadtWildnis steht im direkten Bezug zum Menschen, also findet bis zu einem gewissen Grad auch Gestaltung durch den Menschen darin statt. StadtWildnis ist also nicht gleichzusetzen mit unberührter, unzugänglicher Wildnis.
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Kleinste Form der StadtWildnis: Pflasterritzengesellschaft. Foto © Meike Schulz
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Verwilderte Brachfläche. Foto © Meike Schulz

Zuviel Wildnis in der Stadt kann auch erst einmal abschrecken. Wie kommt das eigentlich?

Wir sind quasi „humanisiert“: In unserer Zivilisation haben wir uns von der Wildnis befreit und waren stolz, dass wir das geschafft haben. Ein Beispiel dafür ist die Begradigung des Rheins im 19. Jahrhundert, die sogenannte „Rheinkorrektur“: Sie ging mit der Zerstörung der angrenzenden Wildnis einher, um den Fluss schiffbar zu machen und Land zu gewinnen. Das ist die Position, aus der wir heraus müssen: Die Natur immer korrigieren zu wollen.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach in der Stadtplanung ändern, um mehr Raum für StadtWildnis zu schaffen?

Wir brauchen mehr Mut. Mehr intelligente Leute mit frischen Ideen, die etwas wagen. Viele Planungsbüros haben Angst, dass die Menschen wilde Stadtnatur nicht annehmen. Oft ist das aber gar nicht so! Das bedeutet: Wir brauchen auch Untersuchungen zu den Nutzungsverhältnissen und den Einstellungen, Vorstellungen und Ängsten der Menschen vor Ort, bevor und damit wir das ein oder andere umsetzen können.

Wie lassen sich Konflikte zwischen Mensch und Natur in StadtWildnis-Gebieten vermeiden?

Grundsätzlich sind sie nicht gänzlich auszuschließen. Die wird es immer geben. Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit sind wichtige Werte in unserer Gesellschaft. Das bedeutet, dass man diesen Bedürfnissen ein bisschen nachkommt im Management, also Flächen zum Beispiel überschaubar und zugänglich macht. Es gibt gute Beispiele, wo rechts und links des Weges gemäht und erst danach die Verwilderung zugelassen wird. Das kommt sehr gut an und zeigt: Es ist wichtig, dass man in der Planung berücksichtigt, was die Menschen erwarten. StadtWildnis sollte den Menschen Schritt für Schritt näher gebracht werden.

Welche Maßnahmen wünschen sie sich von der Politik für die Zukunft der wilden Stadtnatur?

Dass StadtWildnis eine akzeptierte Kategorie wird, die politisch unterstützt wird und in die Planung verstärkt Eingang findet.

Möchten Sie uns noch etwas mitgeben, das wir Sie nicht gefragt haben?

Generell geht es, wenn es um Wildnis geht, auch immer um ein Verständnis für Natur an sich. Die Gesellschaft hat sich jedoch immer weiter von einem guten Naturverständnis entfernt. Das muss sich ändern. Denn wenn Menschen die Natur nicht mehr begreifen und wertschätzen, werden sie sich auch nicht dagegen wehren, wenn sie immer mehr zerstört wird. Natur muss für die Menschen einen Wert haben, erlebbar und erfahrbar sein. Sie muss also vor allem auch dort sein, wo die Menschen sich aufhalten. Naturverständnis beginnt vor der eigenen Haustür. Wir müssen mehr Wildnis in der Nähe der Menschen wagen - und dafür braucht es Mut und Verständnis.

Ersten Teil des Interviews verpasst? Hier gehts zu Teil 1.

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