Was eint die Arbeit in großen und kleinen Wildnisgebieten - und was unterscheidet sie? Und gibt es eigentlich noch "ursprüngliche" Wildnis? Ulrich Stöcker ist Experte für diese Fragen - denn er befasst sich bereits seit fast 30 Jahren mit Wildnis-Themen.
Er nimmt uns mit aus eine Reise hinter die Kulissen von "Rewilding Oder Delta". Rund um das Stettiner Haff an der deutsch-polnischen Grenze zeigt sich deutlich: Wildnis hat Potential zur Grenzüberwindung - und das nicht nur für die Natur, sondern auch fürs uns Menschen.
Ulrich Stöcker war unter anderem verantwortlich für Naturschutzgebietsausweisungen heutiger Wildnisgebiete in Brandenburg und Koordinator der Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz für das Nationale Naturerbe. Und auch mit StadtWildnis kennt er sich aus: Als Leiter des Bereichs Naturschutz und Biodiversität bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH) waren große und kleine verwilderte Flächen Teil seiner täglichen Arbeit. Ab 2012 koordinierte er die von der DUH mitinitiierten Rewilding-Aktivitäten im Oderdelta und gehörte 2019 zu den Gründungsmitgliedern der Initiative „Rewilding Oder Delta e. V.“, wo er seit Ende 2021 als Geschäftsführer arbeitet.
Sie haben bei der Deutschen Umwelthilfe zu Biodiversität und Naturschutz gearbeitet – dabei war auch StadtWildnis immer wieder ein Thema. Jetzt engagieren Sie sich für ein großes, zusammenhängendes Rewilding-Gebiet im Oder Delta. Wie haben aus Ihrer Sicht StadtWildnis- und große Rewildingflächen gemeinsam?
Für die Umsetzung von Renaturierungsmaßnahmen, aber auch um Natur Natur sein lassen zu können, muss man nicht nur die jeweils relevanten Behörden, sondern stets auch die Menschen vor Ort überzeugen. Das geht nur mittels intensiver Kommunikation, bei der man auch zuhören können muss.
… und was unterscheidet sie?
Große Flächen ermöglichen komplexere und damit resilientere Ökosysteme. Bei StadtWildnis geht es viel stärker auch um Naherholung, um Anschauungsorte im Kleinen, darum, die notwendigen Flächen für biologische Vielfalt überhaupt zur Verfügung zu stellen, aber auch um ein besseres Mikroklima über natürliche Kühlungseffekte und Luftverbesserung. Je kleiner eine von Betonflächen umgebene StadtWildnis-Fläche ist, umso größer ist die Gefahr, dass Stauhitze herrscht und der Bedarf wächst, von außen Wasser zuzuführen.
Beim Rewilding geht es um Wiederherstellung von Ökosystemen bei weitestgehender Zulassung natürlicher Prozesse – im Idealfall unter Nutzung natürlicher Kohlenstoffspeicher.
Wiedervernässte Fläche in der Uekermünder Heide. Foto © Rewilding Oder Delta
Welches Projekt zum Thema StadtWildnis hat Ihnen in Ihrer beruflichen Laufbahn besonders am Herzen gelegen – und weshalb?
In Deutschland sicher die Renaturierung der Ruhr in Arnsberg. Zum einen wurden hier in einer kommunalen Initiative die Potentiale der EU-Wasser-Rahmenrichtlinie voll ausgeschöpft, zum anderen eine Erhöhung der biologischen Vielfalt bewirkt und mit Naherholungsinteressen verbunden, sodass sogar eine wirtschaftliche Wertschöpfung erzielt wurde. Im europäischen Maßstab Vitoria-Gastéiz im spanischen Baskenland, wo sich ein gut durch Wege erschlossenes bedeutendes Feuchtgebiet mitten in der Stadt befindet, in dem man im Herbst toll die Rotwildbrunft beobachten kann. International schließlich die Bemühungen der mexikanischen Initiative des Bosque de Agua, die die Ökosystemleistungen und insbesondere das Trinkwasserdargebot für mehr als 20 Millionen Menschen sichern will. Überhaupt bin ich dankbar, Teil der weltweiten Bewegung „Wild Cities“ gewesen zu sein.
Welche drei Schlagworte beschreiben StadtWildnis im Allgemeinen aus Ihrer Sicht am besten?
Mut zu Natur in der Stadt, Trittsteine für Arten, Lernort für Biodiversität.
… und welche große Wildnisflächen?
Großflächigkeit, Unzerschnittenheit und vom Menschen ungesteuerte Entwicklung.
Luftaufnahme von wiedervernässten Mooren und der Peene bei Sonnenaufgang nahe der Stadt Anklam, Oktober 2020. Foto © Rewilding Oder Delta
Worum geht es bei Rewilding Oder Delta?
Die Wiederherstellung natürlicher Prozesse und eine reiche, vielfältige Tierwelt im gesamten Gebiet rund um das Stettiner Haff – auf deutscher wie auf polnischer Seite - liefern lebenswichtige Ökosystemleistungen, die von den Menschen vor Ort geschätzt und geschützt werden, in Verbindung mit einer naturverträglichen Wirtschaft, die das Oderdelta zu einem Gebiet mit hoher Lebensqualität macht. Unser Ziel ist es, die Vorteile einer wilderen Natur aufzuzeigen, indem wir erfolgreiche Initialmaßnahmen der Renaturierung vorstellen und anderen durch die Bereitstellung von Methoden und Fachwissen die Möglichkeit geben, sich in großem Maßstab an der Wiederherstellung der Natur zu beteiligen. Besonders wichtig ist uns dabei, die Menschen vor Ort mit einzubeziehen und „mitzunehmen“, um eine harmonische Koexistenz mit Wildtieren wie Biber, Kegelrobbe, Wolf & Elch zu ermöglichen. Dabei versuchen wir, Faszination, aber auch die Rolle dieser Tiere im Gesamtsystem rüberzubringen. All das entsteht durch die Zusammenarbeit mit Wissenschaft, Behörden und lokalen Gemeinschaften.

Künstlerische Darstellung des Oderdeltas. © Rewilding Oder Delta
Wilde Entwicklung wie im Oderdelta geht nicht immer mit den Vorstellungen konservativer Naturschutzansätze zusammen. Was entgegnen Sie Kritiker:innen des Rewilding-Ansatzes?
Beides hat seine Berechtigung und sollte sich im Idealfall gegenseitig ergänzen. Ich verweise darauf, dass wir weder hoheitliche Mittel, also Ordnungsrecht, zur Verfügung haben, noch in großem Stil Eigentum erwerben, sondern die Unterstützung der Menschen vor Ort und deren Mitwirkung gewinnen, auf die wir angewiesen sind. Außerdem ist Rewilding gegenüber dem klassischen „Pflegenaturschutz“ ein kostengünstigerer Ansatz, der zur Entlastung der durch jahrelange Einsparungen in den Ländern gebeutelten Naturschutz-Haushalte beiträgt.
Wenn sich das Oderdelta nun wild entwickeln darf, ist das dann „ursprüngliche Wildnis“, oder ist die neue Entwicklung auch vom Menschen geprägt?
Wir haben in Mitteleuropa praktische keine ursprüngliche Wildnis mehr. Neue Wildnis ist daher immer auch vom Menschen geprägt, seien es ehemalige Truppenübungsplätze oder Bergbaufolgelandschaften oder auch bei uns das Wildnisgebiet Anklamer Stadtbruch, in dem früher Torf abgebaut wurde und in dem nun die letzten Entwässerungsgräben geschlossen wurden. Bei Rewilding im Landschaftsmaßstab geht es immer um einen Gradienten an Wildheit in Abhängigkeit vom verbleibenden menschlichen Einfluss – das reicht von Gärten am Rand der freien Landschaft bis hin zum Wildnisgebiet.
Egal, ob wilde Stadtnatur oder großes Rewilding-Gebiet – es geht immer auch darum, Menschen für Wildnis zu begeistern. Wo liegen Gemeinsamkeiten und wo sehen Sie Unterschiede in den Herausforderungen der „Überzeugungsarbeit“?
In einer Stadt gibt es klare Grenzen. Der eigene Bereich geht manchmal nur bis zur Häuserwand und liegt oft in fremdem Eigentum. Auf der anderen Seite ist der Bedarf nach nahen Erholungsflächen groß, es herrscht oft ein regelrechter Hunger nach Grün, nach Gesundheit. Dadurch sind diese Themen mehr im Bewusstsein der Menschen verankert und es wird nach Lösungen gesucht, um in der Konkurrenz insbesondere mit dem hohen Wohnungsbedarf zu bestehen. Während sich in Städten viel Fläche in deren eigenem Besitz befindet, die bei ihrer Planung somit ihre eigenen grünen Ziele verfolgen kann, sind auf dem Land Frischluft und Grün direkt vor der Haustür und auf dem eigenen Grundstück zu finden und das Bewusstsein für die Bedeutung der Natur ist oft geringer ausgeprägt. Das Eigentum spielt eine viel größere Rolle als im urbanen Bereich und liegt oft in der Hand einzelner Land- und Forstwirtschaftsunternehmen, die zudem oft von nach wie vor biodiversitätsschädlichen Subventionen profitieren.

Kanufahren auf der Peene, Anklam, Deutschland. Foto © Rewilding Oder Delta
Was sollten Akteure, die eigene (Stadt-)Wildnisprojekte in die Umsetzung bringen möchten, unbedingt beachten?
Dass sie anderen Menschen dort eine Mitmachfläche bieten, denn dichte Zäune mit Schloss davor fördern Vandalismus. Ich verstehe das immer auch als sozial-ökologische Projekte, um die Menschen vor Ort einzubinden und damit diese sich nicht gegen das Projekt wenden, wenngleich Konflikt- und Krisenmanagement von vornherein mitgedacht werden sollten. Also Dialog und Kommunikation, denn Sympathie und Veranstaltungen spielen eine große Rolle, egal, wie groß ein Projekt werden soll. Wenn dann noch Lernorte für Biodiversität geschaffen werden, können tolle Naturerlebnisräume entstehen.
Was wünschen Sie sich für die zukünftige Entwicklung von urbaner Wildnis in Deutschland?
Dass urbane Wildnis – auch als Klimaanpassungsmaßnahme – und Naturerlebnisräume anerkannt werden. Dass nicht einseitig von der Politik Wohnungsbau propagiert wird, wie das in den letzten Jahren leider bisher der Fall war, sondern dass die verschiedensten Aspekte, wie das Baugesetzbuch das auch fordert, zusammengedacht werden. Hier brauchen wir intelligente Stadtplanung, die auch Klimaanpassungsmaßnahmen bedenkt und innovative Lösungen, die sich der Kraft und den Möglichkeiten der Natur bedient. ein tolles Beispiel dafür sind Schwammstadt-Konzepte.
Welche Frage haben wir Ihnen nicht gestellt, die Sie trotzdem gerne beantworten möchten?
Wie man am besten das Rewilding im Oderdelta erleben kann, denn die Region ist einen Besuch wert. Also: Macht mal Urlaub in der Region und überzeugt euch von der weitläufigen Natur auf deutscher wie auf polnischer Seite. Besucht uns gern auch in unserem entstehenden Rewilding- Zentrum in Rothenklempenow-Glashütte oder in unserer Anlaufstelle in Anklam.
Reiherenten über dem Stettiner Haff, Polen.
Rothirschbulle während der Brunft.
Etwa 200 Rothirsche beim Grasen auf einer Wiese am Seegraben (bei Uhlenkrug und Viereck).
Seeadler fotografiert vom Stettiner Haff, an der Grenze zwischen Deutschland und Polen.
Biberburg an der Peene bei Anklam, Deutschland.
Grünfink Männchen an der Peene bei Anklam.
Expedition durch die Wildnis im Oder Delta.
Schlafplatz und Brutstätte für Kormorane im Anklamer Stadtbruch.
Männlicher Bison in einem Wald in Polen.
Flussrenaturierung an der Ina.
Wieder mäandrierender Flusslauf der Ina.
Fotos © Rewilding Oder Delta
Noch mehr über das Projekt:
Auf dem Rewilding Oder Delta LinkedIn-Kanal
oder der Website von Rewilding Oder Delta