Ein mit Graffiti besprühter Gebäudeteil steht in einer überwucherten, grasbewachsenen Fläche mit Büschen und Bäumen unter blauem Himmel.
Interviews, 24. Juni 2025

10 Minuten

„A bisserl Wildnis geht oiwei!“ – StadtWildnis in Wien

Brenda Maria Zoderer forscht und lehrt im Bereich Naturschutz an der Universität für Bodenkultur Wien. In ihrer Forschung untersucht sie die vielschichtigen Beziehungen zwischen Mensch und Natur. Ein besonderer Fokus liegt auf den unterschiedlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen von Menschen in Hinblick auf Wildnis und Rewilding – sowohl in städtischen als auch ländlichen Räumen. Zu ihren Forschungsprojekten im Bereich StadtWildnis zählen unter anderem SUCCESS und reCONNECT.
Eine Frau mit langen dunklen Haaren trägt einen dunkelroten Mantel und steht vor einer grünen, mit Gras und Sträuchern bewachsenen Fläche.
Brenda Maria Zoderer; Foto © Harald Wieser

Warum ist Ihre Forschung relevant und welche Erkenntnisse daraus fließen in die Praxis mit ein?

StadtWildnis ist ein oft übersehener Bestandteil des städtischen Grüns – dabei bietet sie spannende Potenziale für Klimawandelanpassung, Biodiversität und das Wohlbefinden von Stadtbewohner:innen. Im Rahmen unserer Forschungsprojekte haben wir untersucht, wo und in welcher Form StadtWildnis im Wiener Stadtgebiet bereits existiert. Darüber hinaus wollten wir besser verstehen, welche Bedeutung diese Flächen für die Wiener Bevölkerung haben: Wie werden sie wahrgenommen? Und wie reagieren Bewohner:innen auf die Idee, StadtWildnis auszuweiten? Unsere Erkenntnisse sind insbesondere für die Stadtplanung und das Grünraum-Management relevant. Sie helfen etwa bei der Entscheidung, wo bestehende StadtWildnis geschützt oder wo der Bedarf an neuen Flächen besonders groß ist. Gleichzeitig möchten wir mit unserer Forschung dazu beitragen, bestehende Konzepte für die Gestaltung und Pflege von städtischem Grün weiterzuentwickeln – insbesondere mit Blick darauf, wie Erholungsfunktionen und Naturschutz im urbanen Raum sinnvoll miteinander verbunden werden können.

Einer Ihrer Projektberichte zeigt, dass die meisten Wiener:innen den Begriff „StadtWildnis“ vorher nicht kannten. Hat Sie dieses Ergebnis überrascht? und wie könnte man das Bewusstsein für StadtWildnis steigern?

Das Ergebnis hat mich eigentlich nicht überrascht. Zwar wird der Begriff "StadtWildnis" in Wissenschaft, (Landschafts-)Architektur und Verwaltung zunehmend verwendet, in der Alltagssprache ist er jedoch noch kaum angekommen. In Wien werden etwa nur wenige Grünflächen offiziell als StadtWildnis bezeichnet. Unsere Untersuchungen zeigen jedoch, dass der Begriff von den meisten Menschen positiv wahrgenommen wird. Er wird mit urbanen Flächen assoziiert, auf denen sich Natur frei und ungestört entwickeln kann – selbst von Wiener:innen, die zuvor noch nie mit dem Begriff in Kontakt gekommen sind. Das verdeutlicht, dass der Begriff "StadtWildnis" durchaus Potenzial hat, zentrale Qualitäten wie spontane Naturentwicklungsprozesse zu vermitteln und das Bewusstsein für diese besonderen Räume zu stärken.

Was sind die drei wichtigsten Erkenntnisse Ihrer bisherigen Forschung zu StadtWildnis?

Erstens zeigt unsere Kartierung von StadtWildnis, dass diese in Wien bereits in vielfältiger Form vorhanden, jedoch ungleich über das Stadtgebiet verteilt ist.

Zweitens haben wir ein hohes Maß an Akzeptanz gegenüber StadtWildnis- bzw. "Urban Rewilding"-Initiativen festgestellt. Besonders stark ist diese Zustimmung bei Personen, die vergleichbare Grünflächen in der Stadt bereits regelmäßig nutzen.

Drittens bestehen viele Barrieren für Bewohner:innen zur Nutzung von StadtWildnisgebieten. Vor allem in innerstädtischen Gebieten fehlen entsprechende Grünräume häufig oder sie sind schwer zugänglich. Außerdem zeigt sich, dass ein gewisses Maß an Naturinteresse und -wissen Voraussetzung dafür ist, dass Menschen solche Flächen überhaupt wahrnehmen und aufsuchen.

Waldweg im Sternewartepark mit dicht bewachsenen Bäumen, Efeu und einem Holzpfosten mit einem Informationsschild.
Wald mal anders: Auf schmalen Pfaden die StadtWildnis entdecken. Foto © Brenda Maria Zoderer

Sie haben in Wien eine quantitative Umfrage mit Menschen aus verschiedenen Altersgruppen und Herkunftsländern geführt. Gab es signifikante Unterschiede in der Wahrnehmung von StadtWildnis je nach sozialem oder kulturellem Hintergrund?

In einer Befragung von 800 Wiener:innen konnten wir feststellen, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlichen Typen von StadtWildnis eine jeweils unterschiedliche Bedeutung beimessen. Besonders auffällig war, dass jüngere Personen sowie Menschen mit Migrationshintergrund den ökologischen Funktionen von StadtWildnis – etwa als Lebensraum für Tiere und Pflanzen oder als Beitrag zum Stadtklima – weniger Bedeutung zuschrieben.

Ihre bisherigen Forschungsprojekte zeigen, dass StadtWildnis in Wien oft positiv aufgenommen wird, aber auch Nutzungskonflikte entstehen können. Welche Konflikte sind das genau und was wären konkrete Maßnahmen, um ihnen entgegenzuwirken?

Wir haben festgestellt, dass es in der Bevölkerung sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, wie StadtWildnis genutzt und gestaltet werden sollte. Werden diese Perspektiven bei der Planung und Gestaltung entsprechender Flächen nicht berücksichtigt, kann das zu Nutzungskonflikten führen. So erwarten manche Personen, dass StadtWildnis ein "unreglementierter Raum" ist – ein Ort, an dem sich sowohl Natur als auch Mensch frei entfalten können. Diesem Verständnis nach gibt es keine vorgegebenen Regeln, Abgrenzungen oder Wege durch die Stadtverwaltung, sondern eine selbstbestimmte Gestaltung durch die Anwohner:innen, etwa durch das Anlegen von Trampelpfaden oder das Aufstellen selbstgebauter Sitzgelegenheiten. Demgegenüber stehen beispielsweise Verständnisse von StadtWildnis als "naturbelassener Raum", die eine stärkere Regulierung durch die Stadtverwaltung vorsehen. Dabei geht es um eine klarere Trennung zwischen menschlicher Nutzung und geschützten Bereichen, in denen sich die Natur möglichst ungestört entwickeln kann.

Um Konflikte zwischen diesen unterschiedlichen Erwartungshaltungen zu vermeiden, ist es wichtig, die jeweiligen Regeln und Gestaltungsspielräume einer StadtWildnis-Fläche transparent zu kommunizieren. Außerdem könnte es sinnvoll sein, verschiedene Formen von StadtWildnis im Stadtgebiet zu fördern, um so den unterschiedlichen Bedürfnissen und Vorstellungen besser gerecht zu werden.

Ein schmaler Holzsteg führt durch eine grüne Wildnislandschaft mit Bäumen, Gras und einem kleinen Gewässer unter bewölktem Himmel.
Spannende Gestaltung: Der Weg führt geradeaus, während die Natur eigene Wege geht. Foto © Brenda Maria Zoderer

Ihre Forschung verdeutlicht, dass es auf StadtWildnis-Flächen Konflikte zwischen der Förderung spontaner Naturentwicklung und der Förderung der Biodiversität geben kann. Können Sie das näher erläutern?

Dies hängt von den Standortbedingungen ab. Auf sehr trockenen Standorten mit geringer Bodenauflage kann sich die Entwicklung von StadtWildnis beispielsweise bereits in einem frühen Sukzessionsstadium stabilisieren. Dabei entsteht oft eine sogenannte Ruderalvegetation mit offenem Charakter, die sich als idealer Lebensraum für viele seltene und spezialisierte Arten im urbanen Raum erweist. Anders sieht es aus, wenn ökologische Prozesse langfristig zur zunehmenden Verbuschung oder gar zur Ausbildung eines Waldbestands führen. In solchen Fällen kann es über längere Zeiträume hinweg auch zu einem Rückgang der Biodiversität kommen. In Wien beobachten wir jedoch, dass die Förderung ökologischer Prozesse über einen bestimmten Zeitraum hinweg Qualitäten schaffen kann, die das Vorkommen seltener Arten – darunter auch FFH-Arten1 – begünstigen. Insofern kann ein prozessorientierter Naturschutz unter bestimmten Bedingungen wichtige Grundlagen für den Artenschutz in der Stadt schaffen.

In Deutschland gibt es in einigen Städten Vorbehalte gegenüber unregulierten Grünflächen, da sie oft mit Verwahrlosung assoziiert werden. Ist dieses Problem in Wien ähnlich oder gibt es dort eine höhere Akzeptanz für StadtWildnis?

Die Ergebnisse unserer Studie zeichnen hier tatsächlich ein etwas anderes Bild. Im Rahmen der oben genannten Befragung von 800 Wiener:innen verschiedene Szenarien vorgelegt und sie um ihre Einschätzung gebeten. In diesen Szenarien ging es darum, entweder die Hälfte einer Rasenfläche in einem für sie leicht zugänglichen städtischen Park oder einer Freifläche in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung in unterschiedliche Formen von StadtWildnis umzuwandeln – etwa in einen wilden Stadtwald, eine Stadtbrache oder eine Wildblumenwiese. Zu unserer Überraschung zeigte sich, dass mehr als die Hälfte der Befragten entsprechende Entwicklungen befürworten oder sich sogar aktiv dafür einsetzen würden. Nur sehr wenige Befragte standen den präsentierten Szenarien ablehnend gegenüber. Das zeigt deutlich, dass eine Förderung von StadtWildnis auch auf bestehenden Grün- oder Grauflächen in Wien auf breite Zustimmung stoßen würde.
Ein schmaler Trampelpfad führt durch eine grüne, wild bewachsene Fläche mit Büschen und Bäumen, im Hintergrund sind zwei moderne Wohngebäude zu sehen.
Verwilderte Flächen in unmittelbarer Nähe zu Gebäuden. Foto © Brenda Maria Zoderer

Welche weiteren Herausforderungen sehen Sie bei der Akzeptanz von StadtWildnis in der Bevölkerung?

Auch wenn die Akzeptanz von StadtWildnis in Wien insgesamt hoch ist, zeigen unsere Ergebnisse deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Stadtteilen. Besonders Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren stehen der Ausweitung von StadtWildnis eher skeptisch gegenüber. Ähnliches gilt für Stadtteile, die als benachteiligt oder vernachlässigt wahrgenommen werden. Hier stößt die Umwandlung von bestehenden Grün- oder Grauflächen in wildere Flächen – unabhängig von der konkreten Ausgestaltung – auf geringere Zustimmung.

Das verdeutlicht, dass StadtWildnis nicht überall nach dem gleichen Prinzip gefördert werden kann. Vielmehr braucht es ein gutes Verständnis für den jeweiligen städtischen Kontext und die Bedürfnisse der ansässigen Bevölkerung. Es sollten Möglichkeiten zur Beteiligung geschaffen werden, in denen gemeinsam mit Anrainer:innen überlegt wird, wie Stadtnatur Raum gegeben werden kann. Dabei ist es auch wichtig zu vermeiden, dass StadtWildnis ausschließlich dort umgesetzt wird, wo die Akzeptanz bereits hoch ist. Denn das würde den sogenannten Luxuseffekt weiter verstärken, also das Phänomen, dass ökologisch hochwertige Grünflächen vor allem in privilegierten Vierteln zu finden sind.

Eine weitere Herausforderung, aber zugleich auch eine Chance, sehe ich in der Ausweitung der Nutzungsmöglichkeiten bestehender StadtWildnis-Flächen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass Bewohner:innen, die solche Flächen zum Beobachten, Entdecken oder Erforschen von Natur nutzen, der Schaffung neuer StadtWildnis-Flächen deutlich positiver gegenüberstehen. Aus Sicht des städtischen Naturschutzes, des Grünraum-Managements und der Landschaftsarchitektur ergibt sich hier ein spannendes Potenzial. Gemeinsam könnten innovative Wege entwickelt werden, wie Menschen auf vielfältige Weise mit StadtWildnis in Kontakt gebracht werden können. Natürlich müssen solche Ansätze sorgfältig abgewogen werden – denn intensive Nutzung kann mit anderen ökologischen Zielen von StadtWildnis in Konflikt geraten.

In einem Ihrer Projekte haben Sie einen Workshop mit Vertreter:innen aus Wissenschaft und Stadtverwaltung organisiert. Welche zentralen Erkenntnisse konnten Sie daraus gewinnen?

In der Verwaltung besteht die Sorge, dass spontane Naturentwicklungsprozesse in Konflikt mit den Erwartungen der Stadtbewohner:innen geraten könnten – etwa mit dem Wunsch nach gepflegter, abwechslungsreicher und farbenfroher Vegetation oder dem Anspruch, alle Grünflächen betreten und aktiv nutzen zu können.

Gibt es internationale Beispiele für StadtWildnis-Projekte, von denen Wien gelernt hat?

Ich vermute, dass beispielsweise der Berliner Park am Gleisdreieck Einfluss auf die Gestaltung des neuen Parks Freie Mitte im Nordbahnviertel in Wien hatte. In beiden Fällen handelt es sich um ehemalige Bahnareale – also Stadtbrachen, die durch die Stilllegung von Bahnhofsarealen "unbeabsichtigt" entstanden sind. Beide Flächen wurden daraufhin über Jahre hinweg von der Bevölkerung informell genutzt und angeeignet. Ähnlich wie beim Gleisdreieck entschied man sich beim Projekt Freie Mitte, die Fläche nicht vollständig in Wohnraum oder eine klassische Parkanlage umzuwandeln. Stattdessen wurden Teile der entstandenen StadtWildnis erhalten und in ein multifunktionales Parkkonzept integriert. Der Park am Gleisdreieck mag hierfür Vorbild gewesen sein. Denn er hat gezeigt, dass es möglich ist, Naturschutz und Erholungsnutzung auf derselben Fläche zu vereinen – und dass dieses Modell auch durchaus Akzeptanz in der Bevölkerung finden kann.
Verwilderte alte Bahngleise mit Gras und Sträuchern im Vordergrund, im Hintergrund Neubauten und Baukräne unter blauem Himmel.
Hier überwuchert die wilde Stadtnatur alte Gleise. So mancher Neophyt² fühlt sich hier wohl. Foto © Brenda Maria Zoderer

Welche zukünftigen Entwicklungen erwarten Sie für StadtWildnis in Wien und deutschen Städten? Gibt es Potenzial für gemeinsame Projekte?

Angesichts der vielfältigen Herausforderungen, mit denen Städte heute konfrontiert sind, erwarte ich, dass StadtWildnis in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Zwar muss sie immer im Zusammenspiel mit anderen zentralen Themen, wie etwa der Schaffung von leistbarem Wohnraum, gedacht werden, aber sie bietet auch zahlreiche Vorteile. Sie kann städtische Hitzeinseln abmildern, Lebensräume für Tiere und Pflanzen schaffen und das Wohlbefinden der Stadtbevölkerung stärken. Aus bereits bestehenden Projekten und Initiativen können wir viel lernen. Denn mehr Natur in der Stadt zuzulassen erfordert häufig neue Herangehensweisen, sei es in der Grünraumplanung, im Management oder in der Landschaftsarchitektur. StadtWildnis-Flächen können hier als eine Art Reallabore dienen, in denen bestehende Praktiken hinterfragt und neue Ideen ausprobiert werden können. Kooperative Projekte könnten dabei einen entscheidenden Beitrag leisten. Sie könnten nicht nur den Austausch und das gegenseitige Lernen fördern, sondern auch ermöglichen, dass neue Formen des Umgangs mit Natur im urbanen Raum gemeinsam entwickelt und erforscht werden.

Was sind Ihre persönlichen Visionen für die Zukunft der StadtWildnis in Wien?

Unsere bisherigen Forschungsergebnisse zeigen, dass der Schutz und die Förderung von StadtWildnis großes Potenzial haben und auch auf breite Zustimmung in der Wiener Bevölkerung stoßen. Deshalb würde ich mir wünschen, dass StadtWildnis als ergänzender Baustein noch stärker in der Grünraumoffensive der Stadt Wien verankert wird. Neben ihren positiven Effekten für Biodiversität und Stadtklima sehe ich vor allem eine große Chance darin, Menschen im Alltag – idealerweise in der Nähe ihres Wohnorts – in direkten Kontakt mit Natur zu bringen. StadtWildnis kann so zu einem niederschwelligen, aber wirksamen Zugang zu Naturerfahrungen in der Stadt werden. Meine Vision für Wien ist eine grüne sowie naturnahe Stadt, die ihre Bewohner:innen nicht nur vor den Folgen des Klimawandels schützt, sondern auch neue Formen der Beziehung zwischen Menschen und Natur ermöglicht.
Vogelhäuschen und Futterstelle aus Holz und Stein stehen in einem dicht bewachsenen Waldstück mit vielen Ästen und grünen Blättern.
In dieser wilden Ecke ist der Mensch Gast. Foto © Brenda Maria Zoderer

1FFH-Arten: FFH-Arten sind Tier- und Pflanzenarten, die durch die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU besonders geschützt sind. Sie gelten als europaweit bedeutsam für die biologische Vielfalt und benötigen spezielle Lebensräume zum Überleben. Ihr Vorkommen ist ein Hinweis auf ökologisch wertvolle und oft seltene Lebensräume – auch mitten in der Stadt.

²Neophyten: Pflanzen, die durch  menschlichen Einfluss in Gebiete gelangt ist, in denen sie vorher nicht heimisch waren.