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Interviews, 8. Juli 2025

9 Minuten

Aus der großen Wildnis: Die Wildnisstiftung im Portrait

StadtWildnis ist wichtig – und Wildnis im großen Stil erst recht! Die Wildnisstiftung engagiert sich seit 25 Jahren mit eigenen Flächen und viel Expertise für große Wildnisgebiete in Deutschland und deren Vernetzung. Sie ist eine der größten privaten Eigentümerinnen von Wildnisgebieten in Deutschland. Dr. Antje Wurz und Dr. Andreas Meißner leiten die Stiftung – und geben uns Einblicke in die Stiftungsarbeit, Erfolge & Herausforderungen auf dem Weg zu mehr Wildnis in Deutschland.

Weshalb wurde die Wildnisstiftung gegründet?

Mit dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Brandenburg Anfang der 90er Jahre ergab sich eine historische Chance für den Naturschutz: Große unzerschnittene Flächen wurden frei für eine friedliche Nutzung. Naturschutz-Visionäre erkannten das große Potenzial dieser weiten Flächen ohne Straßen, Siedlungen und wirtschaftliche Nutzung. Um diese wertvollen Gebiete als Naturschätze für künftige Generationen zu erhalten, ergriffen unsere Stiftungsgründer vor 25 Jahren die Gelegenheit: Am 16. Mai 2000 wurde die Gründung der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg durch das Brandenburgische Innenministerium genehmigt. Gründungsmitglieder waren die beiden internationalen Größen Zoologische Gesellschaft Frankfurt und Umweltstiftung WWF, der Landschafts-Förderverein Nuthe-Nieplitz-Niederung als regionaler Partner, das Land Brandenburg als öffentliche Institution, der national tätige Naturschutzbund Deutschland, eine Privatperson. Die Gregor Louisoder Umweltstiftung kam später als Zustifter hinzu.

Welche zentralen Ziele verfolgt die Stiftung heute, und haben sich diese im Laufe der Zeit verändert?

Die Wildnisstiftung setzt sich seit inzwischen 25 Jahren dafür ein, Brandenburgs wilde Naturschätze zu bewahren, zu erforschen und erlebbar zu machen. Mit einem Kauf von 3756 Hektar Flächen auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Jüterbog fing im Gründungsjahr 2000 alles an. Heute besitzt und betreut die Stiftung Naturlandschaften Brandenburg 15.150 Hektar Flächen auf den vier ehemaligen Truppenübungsplätzen Jüterbog, Heidehof, Lieberose und Tangersdorf. Das ergibt eine Gesamtfläche, die größer ist als das Stadtgebiet von Paris. Von Anfang an ging es darum, große, ökologisch wertvolle Flächen dauerhaft für eine freie Naturentwicklung zu sichern. Außerdem steht im Fokus, die Entwicklung der Flächen zu beobachten und in Forschungsprojekten wichtige Erkenntnisse zu gewinnen. Besonders liegt es uns am Herzen, diese faszinierenden Gebiete mit attraktiven Umweltbildungsangeboten für die Bevölkerung erlebbar zu machen.

Auch für die nächsten Jahre hat die Wildnisstiftung spannende Pläne: Sie macht sich auf den Weg zum Ausbildungsbetrieb und wird ihre Naturerlebnisangebote durch neue Wanderwege und Kooperationen mit Schulen noch weiter verbessern. Gemeinsam mit der Naturwelt Lieberose Heide und weiteren Partnern beteiligt sich die Stiftung an einem neuen Infozentrum in Lieberose und baut mit dem Land Brandenburg ein Kompetenzzentrum für Waldbrandvorsorge und Wildnisentwicklung auf.

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Foto © Dr. Thilo Geisel

Wie definieren Sie Wildnis und was bedeutet sie aus Ihrer Sicht für Natur und Gesellschaft?

Wir lehnen uns an die Wildnisdefinition des Bundesamtes für Naturschutz an: „Wildnisgebiete im Sinne der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt sind ausreichend große, (weitgehend) unzerschnittene, nutzungsfreie Gebiete, die dazu dienen, einen vom Menschen ungesteuerten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten.“ Hier wird eine Mindestgröße von 1000 Hektar definiert, bei speziellen Biotopen wie Mooren und Gebirgshängen 500 Hektar. Im Umgang mit unseren Wildnisgebieten orientieren wir uns an den Managementkriterien der IUCN für Wildnisgebiete.

Große Wildnisgebiete sind für Natur und Gesellschaft von unschätzbarem Wert: Sie sichern Biodiversität, stabilisieren das Klima, erhalten lebenswichtige Ressourcen und bieten Raum für Erholung, Lernen und Naturerfahrung.* Ihr Schutz ist eine Investition in die Zukunft von Mensch und Umwelt.

Welche große deutsche Wildnisfläche sollte man unbedingt einmal besuchen?

Da empfehlen wir natürlich gerne unsere Wildnisgebiete Jüterbog, Lieberose und Tangersdorf. Wir bieten dort auch Veranstaltungen und Erlebnisangebote. Aber natürlich sind auch alle anderen deutschen Wildnisgebiete einen Besuch wert: Die großen Nationalparke wie etwa der älteste Nationalpark Deutschlands, der Bayerischen Wald, die beeindruckenden Gebirgslandschaften Berchtesgadens und die von größter Dynamik geprägten Wattenmeer-Nationalparke. Aber zum Beispiel auch die Wildnisgebiete Anklamer Stadtbruch, Königsbrücker Heide und viele andere Flächen. Hier findet man auf der Website der Initiative Wildnis in Deutschland einen guten Überblick und viele Erlebnistipps.
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Foto © Dr. Tilo Geisel

Wie wählen Sie neue Flächen aus, die für Wildnisentwicklung in Frage kommen?

Besonders spannend sind für uns Flächen, die direkt an unsere bestehenden Gebiete angrenzen und sie erweitern oder ausreichend groß und unzerschnitten sind, um ein eigenes Wildnisgebiet zu werden. Wir arbeiten gerne auch mit benachbarten Flächeneigentümer:innen zusammen, um eine ausreichende Flächengröße zu erreichen. Besonders hilfreich ist der Wildnisfonds des Bundes, über den wir schon einige Flächen durch Kauf dauerhaft sichern konnten.

Wie gehen Sie mit Nutzungskonflikten um – etwa zwischen Erholung, Jagd, Forst und Naturschutz?

Grundlegend wichtig und eine der ersten Aufgaben bei der Entwicklung eines Wildnisgebietes ist eine passende Zonierung. Die zentralen Bereiche des Wildnisgebietes sollen möglichst ungestört bleiben und der natürlichen Entwicklung gewidmet werden. Sie sind auch wichtige Rückzugsräume für die Aufzucht von Jungtieren. Durch unsere Zielsetzung, Wildnisschutz, fällt ein forstlicher Nutzungsdruck weg und Wildtiermanagement findet nur im Rahmen der gesetzlichen Verpflichtung zur Schadensabwehr auf sehr eingeschränkter Fläche statt. Es wurden große Jagdruhezonen ausgewiesen, die zu den umfangreichsten in ganz Deutschland gehören.

Unser Naturerlebnisangebot ist sehr vielfältig mit einem Netz aus Rund- und Verbindungswanderwegen, regelmäßigen, auch kostenfreien geführten Exkursionen und Veranstaltungen, so dass es hier selten zu Konflikten kommt. Andere Fälle sind die illegalen Nutzungen wie das Motocrossfahren, das in manchen Bereichen leider ein sehr hartnäckiges Problem darstellt.

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Foto © Dr. Tilo Geisel

Gab es unerwartete Hürden oder Herausforderungen in den letzten Jahren, die Sie meistern mussten? Und wenn ja – (wie) wurden sie gemeistert?

Durch die Vornutzung der Flächen als Truppenübungsplätze ergeben sich vielfältige Herausforderungen, die auch 25 Jahre nach Gründung unserer Stiftung bestehen bleiben. Das gilt insbesondere auf den ehemaligen Truppenübungsplätzen, die noch munitionsbelastet sind. Außerdem nehmen durch den Klimawandel die Waldbrände zu. Wir verfolgen daher das Ziel, den Waldbrandschutz auf unseren munitionsbelasteten Wildnisflächen und umliegenden Gebieten durch abgestimmte und kontinuierlich weiterentwickelte Konzepte zu optimieren. Durch die enge Kooperation mit Landkreisen, Feuerwehr, Forstverwaltung, Naturschutz sowie weiteren Expert:innen konnten maßgeschneiderte Waldbrandschutzsysteme implementiert werden, die sich bereits mehrfach bei Bränden bewährt haben. Diese Systeme dienen dazu, die Sicherheit bei Waldbränden zu erhöhen, das Übergreifen von Bränden auf angrenzende Flächen zu verhindern und die empfindlichen Kernzonen des Naturschutzgebietes vor Eingriffen zu bewahren. Hierzu ist natürlich auch die Verfügbarkeit von Fördermitteln für Entmunitionierung und Waldbrandschutz Grundbedingung. Insbesondere für die Entmunitionierung ist dies leider nicht so einfach. Insgesamt haben wir von 2000 bis 2022 bereits etwa 1,8 Millionen Euro für die Beräumung aufgewendet. Dabei wurden 300.000 Euro durch Fördermittel finanziert, der Rest mit Eigenmitteln.

Wie hat sich die öffentliche Wahrnehmung von Wildnis in den letzten Jahrzehnten Ihrer Erfahrung nach entwickelt und verändert?

Das Wildniskonzept ist mittlerweile bekannter und anerkannter, es gibt auch politisch die richtigen Weichenstellungen. Das Bewusstsein für den Wert der Wildnis ist in der Bevölkerung gestiegen, wie auch die Naturbewusstseinsstudien des Bundesamts für Naturschutz zeigen. Dazu tragen auch die zunehmenden Erlebnismöglichkeiten, wie sie unter anderem die Wildnisstiftung anbietet, erheblich bei. Trotzdem ist weiterhin viel zu tun: Es sind erst 0,62% von den angestrebten 2% Wildnisfläche in Deutschland erreicht. Es gibt außerdem immer noch viele Themen, die die Menschen mit Wildnis in Verbindung bringen und zu denen sie Fragen haben – etwa zu Waldbränden und natürlich dem Wolf.

Was ist Ihre Vision für die Wildnisentwicklung in Deutschland in 50 Jahren?

Wir hoffen sehr, dass es bis dahin gelungen ist, mehr als 2% der Fläche Deutschlands als Wildnisgebiete zu sichern – denn Deutschland hat Potenzial für mehr Wildnis, wie eine kürzlich vorgestellte Studie zeigt. Außerdem wünschen wir uns eine rechtliche Sicherung und professionelle Betreuung für alle Wildnisgebiete, mit ausreichend Finanzierung für Flächenunterhalt, Forschung, Naturschutzprojekte und Umweltbildung. Und natürlich noch viel mehr Menschen, die von Wildnis begeistert sind und ihren grundlegenden Wert für Mensch und Natur erkennen.
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Düne Jüterbog, Foto © Dr. Tilo Geisel

Möchten Sie uns noch etwas mitgeben, das wir Sie nicht gefragt haben?

Wir müssen jetzt ganz dringend handeln, damit wir die in der Biodiversitätsstrategie anvisierten 2% Wildnis in Deutschland auch rechtzeitig erreichen, denn die Flächenkonkurrenz ist groß. Und: Spenden für die Wildnis lohnt sich, denn Wildnis ist eine Investition in die Zukunft, sie ist die Lebensversicherung unseres Planeten!

*Wofür ist Wildnis im großen Stil gut? Ein Überblick

Erhalt biologischer Vielfalt: Große Wildnisgebiete sind Rückzugsräume für zahlreiche Tiere und Pflanzen, darunter viele bedrohte und störungsempfindliche Arten. Sie bieten Lebensräume in allen Entwicklungsstadien, was für das Überleben komplexer Lebensgemeinschaften unerlässlich ist.

Förderung natürlicher Prozesse: In Wildnisgebieten laufen natürliche, dynamische Prozesse wie Sukzession, Alterung und Zerfall von Wäldern oder Überschwemmungen in Auen ungestört ab. Dadurch entstehen vielfältige Landschaften und besondere Ökosysteme sowie Schutzwirkungen, etwa gegen Hochwasser.

Klimaschutz: Intakte Wildnisgebiete wie Moore, Wälder und Auen dienen als Kohlenstoffsenken und helfen so, den Klimawandel abzumildern. Sie speichern große Mengen CO₂ und tragen zur Regulierung des Wasserhaushalts bei. Große Wildnisgebiete geben Tier- und Pflanzenarten Zeit und Raum, sich an den Klimawandel anzupassen und bieten Lebensräume für neu einwandernde Arten.

Referenzflächen für die Forschung: Wildnisgebiete sind wichtige „Freilandlabore", in denen Wissenschaftler:innen beobachten können, wie sich Natur ohne menschliche Eingriffe entwickelt und an Umweltveränderungen anpasst (beispielsweise bei der natürlichen Wiederbewaldung nach Bränden). Diese Erkenntnisse sind wertvoll für den Naturschutz und das Management genutzter Landschaften.

Besonders wichtig ist auch die gesellschaftliche Bedeutung von Wildnisgebieten:

Erholung und Bildung: Wildnisgebiete geben Menschen die Möglichkeit, ungelenkte Natur zu erleben und zu erforschen. Sie sind Lernorte für Umweltbildung und fördern das Bewusstsein für den Wert intakter Ökosysteme.

Sicherung von Lebensgrundlagen: Die Ökosystemleistungen großer Wildnisgebiete – saubere Luft, sauberes Wasser, gesunde Böden – sind essenziell für das menschliche Wohlergehen. Sie tragen zur Lebensqualität bei und bieten langfristige Ressourcen für Medizin, Ernährung und Technik.

Kulturelle und emotionale Werte: Wildnis übt eine große Faszination aus und wird als Gegenwelt zur vom Menschen gestalteten Kulturlandschaft wahrgenommen. Sie dient als Regenerationsraum und Quelle für Inspiration, Abenteuer und Naturerfahrung.

Langfristige Weitsicht: Der Schutz großer Wildnisgebiete ist ein nachhaltiger Ansatz, um auch künftigen Generationen die Erfahrung und die Vorteile natürlicher Lebensgrundlagen zu sichern. Sie sind eine tragende Säule des Naturschutzes.

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Dr. Antje Wurz, Foto © Die Wildnisstiftung
Dr. Antje Wurz ist zuständig für Personal, Stiftungskommunikation, Fundraising sowie die Naturwelt und das Wildnisgebiet Lieberose. Als Forstwissenschaftlerin beschäftigt sie sich leidenschaftlich mit der Frage, wie sich Natur entwickelt, wenn der Mensch nicht eingreift. Sie möchte die Faszination von Wildnis vermitteln und die Möglichkeiten, von ihr zu lernen. Sie lädt dazu ein, gemeinsam über unterschiedliche Vorstellungen von Natur zu sprechen und die Wildnisgebiete kennenzulernen, um neue Perspektiven zu gewinnen.
Dr. Andreas Meißner ist verantwortlich für Finanzen, Flächenmanagement und -erweiterung, Forschung und Monitoring in den Wildnisgebieten Jüterbog, Heidehof und Tangersdorf. Sein zentrales Anliegen: der dauerhafte Schutz und die Erweiterung von Naturräumen als Schlüssel für eine lebenswerte Zukunft. Essentiell sind für ihn dabei die Zusammenarbeit mit vielen Partner:innen, der Dialog mit Interessierten und das Teilen von Naturerlebnissen.
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Dr. Andreas Meißner, Foto © Die Wildnisstiftung