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Interviews, 17. Juni 2025

6 Minuten

Der Professor und die (Stadt)Wildnis – was wir von Prof. Dr. Jürgen Breuste lernen können

Porträt eines lächelnden Mannes mit Brille, grauem Bart und blauem Halstuch vor Berglandschaft und blauem Himmel.
Prof. Dr. Jürgen Breuste
Prof. Dr. Jürgen Breuste ist Stadtökologe und Geograph. Er gründete und leitete 20 Jahre lang die Arbeitsgruppe Stadt- und Landschaftsökologie an der Paris Lodron Universität Salzburg und ist seit 2024 Seniorprofessor an der Universität Hildesheim im Fachbereich Geographie. Dort beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit Stadt- und Landschaftsökologie. Stadtnatur ist für ihn ein Herzensthema – zu dem er auch mehrere Bücher verfasst hat, etwa „Die wilde Stadt – Stadtwildnis als Ideal, Leistungsträger und Konzept für die Gestaltung von Stadtnatur“.
Anmerkung der Redaktion: Das Interview mit Prof. Dr. Breuste haben wir aufgrund seiner Länge in zwei Beitrag aufgeteilt. Dies ist Teil 1.

Was war Ihre zentrale Motivation, das Buch „Die wilde Stadt“ zu schreiben?

Ich glaube, dass wir ganz verschiedene Naturformen in den Städten benötigen und dass wir zu allen ein vernünftiges Verhältnis aufbauen müssen. Das beginnt beim eigenen Garten, geht weiter mit den öffentlichen Grünflächen bis hin zu Stadtwäldern – und eben auch Flächen, auf denen der Mensch sich zurücknimmt und auf denen sich die Natur entfalten kann. Menschen sollten verstehen, dass die Natur in der Stadt vielfältig ist und nicht nur aus gepflegten Parks und Gärten besteht.

Was ist Ihre Definition für den Begriff StadtWildnis?

Der Wildnisbegriff ist ein beschreibender Begriff, der in der Wissenschaft nicht fixiert ist. Aber man kann trotzdem ganz vernünftig und klar sagen: Für mich beginnt Wildnis überall dort, wo der Mensch sich zurücknimmt und seine Tätigkeit einstellt oder reduziert. Das heißt aber auch: Wir haben verschiedene Grade von Wildnis. Das wird übrigens in der Europäischen Union genauso gesehen. Dabei werden Plaketten vergeben für verschiedene Wildnisgrade (Bronze, Silber, Gold und Platin). Das heißt, Wildnis kann der verwilderte Garten sein. Aber auch die Fläche die früher einmal für irgendetwas genutzt wurde und dann über Jahre oder Jahrzehnte nicht mehr genutzt wird bietet Raum für Wildnis. Im großen Stil ist natürlich der Nationalpark mit seinen Kernbereichen, in denen vielleicht schon seit Jahrzehnten nicht mehr durch uns Menschen eingegriffen wird, wild.
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Wilde Brachfläche neben einer Baustelle. Foto © Meike Schulz

Das bedeutet aber auch, Orte zu finden, wo es überhaupt keinen menschlichen Einfluss gibt, ist schwierig – oder?

Ja, das ist sehr schwierig. Deswegen gibt es gerade in Städten eben nicht bloß Wildnisflächen, sondern auch Wildnielemente, also kleine Bestandteile, wo die Natur sich ihren Weg selbst sucht. Aber nicht immer ist das willkommen. Vielfach werden solche kleinen Wildniselemente besonders dann beseitigt, wenn sie nicht bewusst angelegt wurden, sondern sich von selbst entwickelt haben. Pflanzen, die aus den Pflasterritzen herauswachsen, sind dafür ein gutes Beispiel.
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Doppelt wild: Pflasterritzengesellschaft und hängende Pflanzen überwuchern Graffitis. Foto © Meike Schulz

Was sind die größten Herausforderungen bei der Integration von Wildnis in das Stadtbild?

Die Menschen und ihre Einstellungen, das sind die größten Herausforderungen. Ihr gestörtes Verhältnis zur Natur, was in der Gesellschaft jetzt fest etabliert und verbreitet ist. Das geht bis zur Unkenntnis von simpelsten Dingen. Und das macht die Sache schwierig, Wildnis in Städten zu integrieren, weil die meisten Menschen Natur nur als eine künstlich geschaffene, gepflegte Natur, als Kulturlandschaft oder als den Garten verstehen. In meinem Buch greife ich dazu ein Beispiel aus der Naturbewusstseinsstudie von 2009 des Umweltbundesamts auf: Darin wurde eine Graslandschaft mit einem Weidetier gezeigt, im Hintergrund sind ein Reh, ein Stückchen Wald und noch weiter hinten Berge zu sehen. Das ist in den Augen von über 3000 repräsentativ befragten Menschen in Deutschland Natur. Da gehört Wildnis ganz sicher nicht zum Naturbild. Und das ist ein Problem.

Wie meinen Sie, sehen die Menschen die Wildnis dann – als ungeordnet, verwahrlost oder auch als Chaos?

Ich sage immer SOS: Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit. Diese drei Dinge brauchen viele Menschen in ihrer nahen Umgebung, insbesondere in Städten. Doch genau alles drei bietet die Wildnis nicht.

Wie ist ihre Einschätzung, wie wird das Konzept der StadtWildnis von Stadtplaner:innen und Behörden aufgenommen?

Mit Zurückhaltung. Viele haben Angst, Wildnis zu etablieren – nicht etwa, weil sie selbst ängstlich wären vor Wildnis, sondern weil sie denken, das wird nicht gut ankommen, wenn wir das machen. Wir werden nur Kritik bekommen, und wir werden Auseinandersetzungen mit Bürger:innen führen müssen, und das müssen wir uns nicht unbedingt antun. Doch manchmal verschätzen sich Planer:innen auch, weil sie oft annehmen, aber nicht wirklich wissen, was Menschen tatsächlich denken und wie sie dazu stehen.

Wie könnte man mehr Menschen und vielleicht auch mehr Planer:innen motivieren, StadtWildnis zu fördern?

In England gibt es seit langem das Konzept „Enjoy Nature“ – nach diesem Motto wird die Natur in die Stadt integriert, also praktisch erlebbar gemacht. Es steht ganz im Gegensatz zu der immer noch typisch deutschen belehrenden Attitüde, den stadtökologischen Lehrpfaden. Da stehen dann Tafeln, auf denen alles Mögliche erklärt wird. Aber kein Mensch sieht den Käfer, den Vogel oder den Wurm, die auf den Tafeln abgebildet sind, in echt. Es braucht mehr Emotion und Erlebbarkeit in unserer Umweltbildung. Nicht nur Emotionen, denn sonst haben wir nur die Spaßgesellschaft, sondern Emotion muss sozusagen ein Förderer, ein Einstieg sein in die Sache und dann brauchen wir ganz sicher noch ein paar mehr Kenntnisse, die aber nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.
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Natur erlebbar machen: Das geht zum Beispiel mit einem Erlebnispfad - wie hier im Donnersbergkreis. Foto © Pia Ditscher
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Wo Naturbildung interaktiv wird, macht Lernen Spaß.
Foto © Pia Ditscher

Es geht also vor allem um Entdecken, Erforschen, selbst Machen?

Ja, richtig. Und darum, vor allem Kinder nicht in ihrem offenen, oft enthusiastischen Verhalten zur Natur und zur Wildnis zu bremsen. Denn die Kinder sind die treusten Wildnisfans: Sie wollen sie haben, die Wildnis. Sie haben kein Problem damit, in den Matsch zu stapfen, auf das Bäumchen zu klettern, einen Ast auch mal abzubrechen. Es sind die Eltern, die sagen: „Mach das nicht“!

Welche gesellschaftlichen Vorteile sehen Sie in der Förderung von StadtWildnis?

Ein besseres Verhältnis zur Natur überhaupt zu bekommen und zur Umwelt, ein wirkliches Verständnis und nicht bloß ein Nachreden von dem, was in den Medien ständig auf uns herab geschüttet wird. Denn das hat bisher keinerlei Wirkung gezeigt. Also wir brauchen ein neues und besseres Verständnis von Natur. Das können wir durch Reisen in ferne Wildnisse in skandinavischen Bergen oder in den Rocky Mountains erreichen – das ist aber nur für eine sehr kurze Zeit im Jahr und nur für wenige Menschen möglich. Oder wir ermöglichen solche Erlebnisse für viele Menschen, für eine lange Zeit im Jahr – nämlich dort, wo sie wohnen, in ihrem unmittelbaren Umfeld. Es liegt eine große Chance darin, den Menschen die Wildnis in ihrem Lebensumfeld nahe zu bringen – und das bedeutet eben oft, in der Stadt.

Und was macht man mit den Erwachsenen? Das Kind in ihnen wieder erwecken?

Tja, ja, vielleicht ja. Es gibt sicherlich verschiedene „Schienen“, auf denen man Erwachsene wieder neu für Natur begeistern kann. Die einen haben eher einen ästhetischen Zugang, andere sind eher über die emotionale Schiene erreichbar. Wichtig ist es, auf diese unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen.

Neugierig, wie es weitergeht? Hier folgt in Kürze der Link zu Teil 2 des Interviews.