Drei Städte, drei Forschungspartner, ein Projekt: Frankfurt, Hannover und Dessau-Roßlau haben bei „Städte wagen Wildnis” von 2016 bis 2021 gemeinsam erprobt und erforscht, wie wilde Stadtnatur bei der Bevölkerung ankommt, wie sich die Flächen im Zeitverlauf entwickeln und wie man das Thema am besten kommuniziert. Dr. Thomas Hartmanshenn vom Frankfurter Umweltamt hat das Projekt geleitet und gibt Einblicke in die Herausforderungen, Erfahrungen und Erkenntnisse aus fünf Jahren „Städte wagen Wildnis”.
Dr. Thomas Hartmanshenn, Diplom Geograph und Vater zweier Töchter, ist seit 2014 Leiter der Abteilung Umweltvorsorge im Umweltamt der Stadt Frankfurt am Main. Dort ist er verantwortlich für die Projektgruppe GrünGürtel. Von 2016 – 2021 koordinierte er das bundesweite Projekt „Städte wagen Wildnis – Vielfalt erleben“. Vor seiner Tätigkeit für das Frankfurter Umweltamt war er viele Jahre als Experte der Internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Rwanda, Senegal, Haiti, Äthiopien und Afghanistan unterwegs.
Sie haben das Projekt „Städte wagen Wildnis geleitet“ – worum ging es bei diesem Projekt?
Die drei Städte Dessau-Roßlau, Hannover und Frankfurt haben sich mit drei wissenschaftlichen Akteuren sowie dem Biodiversitätsnetzwerk BioFrankfurt zusammengefunden, um Wildnis im urbanen Raum zu fördern. Dieses Modellvorhaben wurde vom BfN finanziell und beratend unterstützt. Im Wesentlichen ging es darum, Möglichkeiten zu nutzen, die Arten- und Biotopvielfalt in den drei Städten zu fördern und die Menschen für diesen Ansatz zu gewinnen. Neben den ökologischen Maßnahmen auf den rund 34 Projektflächen ging es dabei auch um Naturerlebnisse, die wir in Form von Führungen und weiteren Begegnungen mit den Flächen, wie Mitmachaktionen bei Pflegemaßnahmen, angeboten haben.
Was fasziniert Sie persönlich am Thema StadtWildnis?
StadtWildnis ermöglicht uns, den Menschen darzustellen, was in einer Stadt alles so lebt – eine reiche Tier- und Pflanzenwelt ist für die meisten doch eher überraschend. Und wie leicht es sein kann, diesen Reichtum noch zu steigern, hat uns selbst überrascht und fasziniert noch heute …
Kinder entdecken die StadtWildnis auf der Frankfurter Fläche im „Nordpark Bonames“
Sie haben im Projekt folgenden Satz geprägt: „Wildnis ist sexy“. Das sehen nicht alle so. Was denken Sie, braucht es, damit das Thema Stadtwildnis noch mehr Zuspruch findet – in der Politik sowie in der Bevölkerung?
„Sexy“ ist nach wie vor das richtige Wort – allein schon deshalb, weil es für Verwunderung und für Aufmerksamkeit sorgt, wenn es bei einem Vertreter der Stadtverwaltung zum aktiven Wortschatz gehört. Im Projekt haben wir die Erfahrung gemacht: Stadtwildnis kommt dann an, wenn sie an die Rahmenbedingungen vor Ort angepasst ist. In Dessau-Roßlau wurden Gewerbe- und Industriebrachen umgebrochen, mit neuem Boden angefüllt und anschließend mit gebietsheimischen Mischungen an Gräsern, Kräutern und Stauden eingesät. In der Folge wurden aus „unansehnlichen“ Brachen „blühende Landschaften“, die der heimischen Insektenwelt über viele Monate hinweg neue Nahrungsquellen geboten haben. Die Menschen haben sich an den nun bunten Freiflächen erfreut – und fanden den Ansatz ebenso sexy wie die Menschen in Frankfurt oder Hannover, bei denen auf vielen Flächen die Natur einfach machen konnte, was sie wollte – mit leichten Eingriffen.
Einen besonderen Beweis dafür, dass Wildnis in der Stadt wirklich sexy ist, liefert das unverminderte Interesse der Studierenden, ihre Bachelor- oder Masterarbeit eng am Förderansatz der Projektflächen auszurichten. Von 2017 bis 2024 sind mindestens 40 solcher Arbeiten im Kontext des Projekts entstanden.
Viele Wege führen in die StadtWildnis - wie hier in Frankfurt am Main
Was war die größte Herausforderung und (wie) wurde sie im Projekt gemeistert?
Die eindeutig größte Herausforderung, die bis heute bei vergleichbaren Ansätzen noch immer unterschätzt wird, ist die dauerhafte Flächenverfügbarkeit für die StadtWildnis. Wenn Sie als Amt über keine eigenen Flächen verfügen – und bei allen drei genannten städtischen Partnern war und ist das so – dann bedarf es sehr großer Abstimmungsschleifen und Kompromisse, um private und öffentliche Eigentümer*innen davon zu überzeugen, Flächen möglichst dauerhaft dafür bereitzustellen.
Das Projekt ist seit 2021 beendet. Wie haben sich die Flächen in Frankfurt seit Projektende weiterentwickelt – darf dort auch weiterhin Wildnis entstehen?
Als „Projekt“ ist der Ansatz ausgelaufen. Das bezieht sich in Frankfurt aber nur auf das Ende der externen Förderung von Seiten des BfN, das heißt: Hier geht’s weiter. Sowohl Maßnahmen der Umweltbildung wie Besuche für Schulen und Kindergärten, Führungen und Mitmachangebote, Maßnahmen der Arten- und Biotopförderung und nicht zuletzt auch Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit werden fortgesetzt. Hinzu kommt, dass wir als Umweltamt 2023/ 24 zwei wissenschaftliche Fachbeiträge zum Thema veröffentlicht haben. Unser Forschungspartner Senckenberg hat außerdem 2023 einen Sammelband über „Wildnis in Frankfurt“ herausgebracht.
Einblick in die Ergebnisse des Artenmonitoring auf den StadtWildnis-Flächen im Projekt “Städte wagen Wildnis”
Wird die Entwicklung der Flächen auch weiterhin wissenschaftlich begleitet?
Das intensive Artenmonitoring, das Senckenberg bis 2021 geleistet hat, kann heute nicht mehr durchgeführt werden. Dafür lenken wir viele Untersuchungen, die wir als Umweltamt zusammen mit Senckenberg beauftragt haben, auf die Projektflächen, insbesondere am Fuße des Monte Scherbelino. Daraus entstehen weitere Pflege- und Förderhinweise, die wir als Amt umsetzen. So werden wir 2025 den Schutz für den Flussregenpfeifer und die Artengruppe der Amphibien weiter stärken. Was wir genau machen werden, darüber können wir zu Jahresbeginn 2025 sehr gerne nochmals gesondert berichten …
Wie wurde das Thema „StadtWildnis“ von der Bevölkerung in den drei Projektstädten wahrgenommen?
Die Wahrnehmung der StadtWildnis ist nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Derzeit läuft in Frankfurt genau dazu eine Masterarbeit an. Wenn wir statt „wahrgenommen“ das Wort „angenommen“ verwenden, dann kann man sagen: Die Zahl der Teilnehmenden an den Veranstaltungen der drei Städte war sehr hoch. Am Monte Scherbelino haben wir bei Führungen bis zu 240 Teilnehmende zählen können – und das ist heute noch so. Und in Dessau-Roßlau hat eine repräsentative Studie ergeben, dass der Anteil derjenigen, die Wildnis in ihrer eigenen Stadt gutheißen, von rund 64% vor Projektbeginn auf etwa 92% nahe Projektende signifikant gestiegen ist. In Hannover und Frankfurt waren die Zahlen von Anfang an sehr hoch. Da kommt einiges zum Ausdruck …
Hat sich durch das Projekt etwas in der Wahrnehmung verändert?
Man kann davon ausgehen, dass der Begriff der StadtWildnis bei den Menschen heute zum weit überwiegenden Teil positiv besetzt ist. Und es ist zu vermuten, dass viele gelernt haben: Will ich Stadtwildnis erleben, muss ich genauer hinschauen und mich auch gedulden. Eisvogel und Flussregenpfeifer sind nun einmal sehr scheue Zeitgenossen, Libellen und Heuschrecken sind flinke Wesen, und die reiche Amphibienwelt entdeckt man eigentlich nur bei Führungen.
Wie haben andere Städte auf das Projekt reagiert? Stehen Sie mit möglichen Nachahmer*innen in Kontakt?
Andere Städte für diesen Ansatz zu gewinnen, beziehungsweise ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, von den Erfahrungen der drei Projektstädte zu profitieren, war eines der Projektziele. Die Covid-19-Pandemie hat dem einen argen Strich durch die Rechnung gemacht, weil die für Frühjahr 2021 geplante zentrale Fachtagung ausfallen musste. Nach der Veröffentlichung des umfangreichen Projektberichtes im Rahmen der BfN-Schriften (Anmerkung der Redaktion:
Nr. 662: Städte wagen Wildnis – Vielfalt erleben. Mehr Mut zu wilder Stadtnatur) haben sich andere Städte und Gemeinden sehr interessiert gezeigt. Für weitere Kontakte sind wir von Seiten des Umweltamtes Frankfurt sehr offen und werden jede Gelegenheit nutzen, den dafür notwendigen Dialog zu führen. Ich persönlich gehe davon aus, dass der Deutsche Naturschutztag 2026 in Berlin, der die Stadtwildnis zum zentralen Thema haben soll, dafür noch einmal einen Schub geben wird.
Wie engagiert sich die Stadt Frankfurt seit Projektende für urbane Wildnis?
Mit den Ergebnissen des Projektes und der Vorlage des Frankfurter Arten- und Biotopschutzkonzeptes haben wir sehr gute Grundlagen für die flächenhafte Ausdehnung der urbanen Wildnis. Und jetzt liegen auch Anfragen aus der Privatwirtschaft vor, die auf Kooperationen in diesem Bereich zielen. Von Seiten der Stadt Frankfurt werden wir – zusammen mit dem Biodiversitätsnetzwerk BioFrankfurt –versuchen, eine weitere externe Förderung zu erhalten. Denn wir können diesen Ansatz nur dann in die Fläche bringen, wenn wir dafür auch das notwendige Personal bereitstellen können. Das ist der entscheidende Knackpunkt für unser Engagement!
Perspektivenwechsel: Blick aus der StadtWildnis auf die Stadt
Welche Erkenntnis möchten Sie weiteren Projekten dieser Art gerne mit auf den Weg geben?
Klären Sie zuvor den Zugang zu den Flächen, auf denen Stadtwildnis gefördert werden soll, wie auch die langfristige Sicherung dieses Ansatzes.
Gibt es noch eine besondere Anekdote aus dem Projekt, die Sie uns gerne erzählen möchten?
Da fällt mir viel ein – vor allem auch schöne Geschichten. Hier und heute vielleicht Folgendes: Auf der Projektfläche am Fuße des Monte Scherbelino haben wir über Jahre hinweg Fotofallen aufgestellt, um auch darüber das Treiben auf der Projektfläche abbilden zu können. Und tatsächlich sind Waschbär, Fuchs und Damwild immer wieder ins Visier geraten. Doch die Spezies, die mit Abstand am häufigsten abgelichtet wurde, war der homo sapiens: Mitarbeiter:innen von Senckenberg auf ihrer Mission des Artenmonitorings. Herausragende Erinnerungen an das Projekt!
Einige Besucher der Flächen im Projekt „Städte wagen Wildnis“ - aufgenommen mit Fotofallen