Winterthur denkt Stadtgrün neu: Michael Wiesner verfolgt mit seinem Team einen konsequent naturnahen Ansatz. StadtWildnis bedeutet hier nicht Unordnung, sondern gezielte Zurückhaltung – die Natur darf sich entfalten, ohne dass der Mensch ihr zu starre Zielbilder auferlegt. Baumgruppen, Tiny Forests, wilde Bachufer und Altgrasstreifen ersetzen klassische, intensiv gepflegte Grünflächen.
Michael Wiesner ist Botaniker und Fachbereichsleiter für Ökologie im Bereich Stadtgrün bei der Stadt Winterthur/CH. Mit seinem Engagement für naturnahe Stadtentwicklung prägt er maßgeblich die ökologische Ausrichtung urbaner Grünräume. In Projekten zu StadtWildnis sowie in Bildungsinitiativen setzt er sich dafür ein, biologische Vielfalt im Siedlungsraum sichtbarer und erlebbarer zu machen.
Wie definieren Sie den Begriff StadtWildnis und welche Rolle spielt wilde(re) Natur in der Stadtentwicklung bei Ihnen in Winterthur?
Stadtwildnis heißt für uns, einst intensiv bewirtschaftete Grünflächen im Siedlungsraum ökologisch aufzuwerten – zum Beispiel durch die Schaffung zusätzlicher Strukturen. Stadtwildnis bedeutet aber auch, geeignete Flächen nach dem Vorbild natürlicher Lebensräume zu gestalten und die Dynamik natürlicher Prozesse zuzulassen. Die Bewirtschaftung wird nicht ganz aufgegeben, aber der Natur wird wieder mehr Raum zugestanden für verschiedene Entwicklungsstadien. Wir pflegen Stadtwildnis-Flächen nicht mehr nach vorgängig festgelegten fixen Zielbildern, sondern extensiv. Konkret bedeutet das: Wir reduzieren die Pflegeeingriffe auf das für die Sicherheit und die vorgesehene Nutzung erforderliche Mindestmaß. Den Rest erledigt die Natur auch ohne unser Zutun.
Stadtwildnis-Flächen können Wildhecken, Blumenwiesen mit Altgrasstreifen und Kleinstrukturen wie Heu-, Ast- oder Steinhaufen, wilde Bachufer oder Ruderalstandorte1 mit stehendem und liegendem Totholz sein.
Stadtwildnis-Flächen sind logischerweise nicht unberührte Natur, sondern von Menschenhand geschaffene und gestaltete, ökologisch wertvolle und biodiversitätswirksame Flächen. Sie leisten nicht nur einen wesentlichen Beitrag an die Biodiversität, sondern auch an die Klimaanpassung der Stadt.
Welchen Stellenwert hat das Thema StadtWildnis aus Ihrer Sicht in der Schweiz?
Stadtwildnis ist in der Schweiz noch kein gängiges Programm. Der Stellenwert von naturnahen, ökologisch wertvollen Flächen im Siedlungsraum wird aber steigen und auch steigen müssen – für die Förderung der biologischen Vielfalt, den Schutz und die Förderung von Arten und die Vernetzung von Lebensräumen.
Welche konkreten Maßnahmen wurden in Winterthur bereits umgesetzt, um mehr StadtWildnis zu schaffen?
Wir haben bereits mehrere Flächen aus der intensiven Bewirtschaftung herausgenommen und sichtbar nach dem Vorbild der Natur umgestaltet. Zudem haben wir mehrere TreeClumps2 und Tiny Forests3 gepflanzt. Erste Bachufer wurden mit zusätzlichen Heckensträuchern gesäumt und ab sofort nur noch extensiv bewirtschaftet. Das Stadtbild wird sich schrittweise verändern, weshalb wir extensivierte Flächen mit speziellen Stadtwildnis-Tafeln beschriftet haben und beschriften werden. So verstehen die Menschen, dass natürliche Ordnung keine Unordnung ist.
Eindrücke aus der StadtWildnis in Winterthur. Fotos (c) Michael Wiesner.
Nutzungsdruck und Zielkonflikte sind bei städtischen Flächen häufig relevant.
Wie stellen Sie sicher, dass die Flächen langfristig für die Natur erhalten bleiben?
Auch Städte entwickeln sich dynamisch. Das gilt es immer und überall zu berücksichtigen. Ein langfristiger Schutz von ökologisch wertvollen Flächen im Siedlungsraum bleibt wohl nur ausnahmsweise möglich. Unterschutzstellungen sind aber auch gar nicht unbedingt das Mittel unserer Wahl, denn sie würden Stadtwildnis-Flächen erschweren oder gar verunmöglichen. Wer gäbe schon Flächen dafür her, wenn diese nie mehr anderweitig genutzt werden könnten? Stadtwildnis heißt deshalb auch, kurzfristig immer und überall Möglichkeiten für Aufwertungen zu nutzen und bei Bedarf wieder aufzugeben, um anderswo wieder neue Möglichkeiten zu nutzen. Stadtwildnis bedeutet ein Mosaik von biodiversitätswirksamen Flächen, das sich ständig verändert.
Wie reagieren die Anwohner:innen auf StadtWildnis-Flächen? Gibt es auch Bedenken oder Widerstände und wenn ja, wie begegnen Sie diesen?
Zu unserem Erstaunen wurden die Stadtwildnis-Flächen von den Anwohnenden sehr gut und praktisch ohne Widerstand aufgenommen. Natürlich gab es auch Zwischentöne und sogar kritische Stimmen, aber die Akzeptanz war insgesamt so hoch, dass wir auf klar gekennzeichneten und mit einem einfachen Kokos-Seil eingerahmten Stadtwildnis-Flächen die Problematik „Abfallentsorgung in der Natur“ entschärfen konnten. Die Leute werfen offenbar weniger Abfall auf Flächen, die extra für Tiere und Pflanzen geschaffen wurden. Das hat uns überrascht, aber natürlich auch sehr gefreut.
Bieten Sie den Bürger:innen auch Beteiligungsmöglichkeiten und / oder Umweltbildungsangebote zum Thema? Wenn ja, welche – und wenn nein, weshalb nicht?
Wir informieren vor Ort transparent über unsere Stadtwildnis-Projekte, aber auch in Quartiervereinen oder über die Medien. Mitmachaktionen gab es zum Beispiel bei der Pflanzung eines rund 1000 Quadratmeter großen Tiny Forests, der während zwei Tagen von rund 50 Mitarbeitenden eines internationalen Versicherungskonzerns gepflanzt wurde.
Gibt es bestimmte Tier- und Pflanzenarten, die in Winterthur besonders von StadtWildnis-Flächen profitieren?
Mit der Pflanzung oder Ansaat einheimischer Pflanzen und dem Anlegen von Kleinstrukturen, Totholz etc. schaffen wir Lebensräume für Insekten, Reptilien und andere Tiere, von denen sich wiederum andere Arten ernähren können. So können sukzessive sich verändernde, funktionierende Ökosysteme entstehen – unter anderem mit Symbiosen4 und Parasitismus5. Auf Stadtwildnis-Flächen werden wir vermehrt Arten finden, die entweder bereits im Siedlungsraum oder im Umland vorkommen. Wir rechnen kaum damit, dass wir gänzlich neue Arten finden werden. Arten, die empfindlich auf Störungen reagieren, sowie typische Wald- oder Kulturland-Arten werden sich auf solchen Flächen vermutlich kaum ansiedeln. Trotzdem gibt es schöne Beobachtungen: Auf einer Fläche in einem Wohnquartier wurde die Gelbe Reseda (Reseda lutea) gepflanzt – und noch im selben Jahr haben wir dort die Reseda-Maskenbiene (Hylaeus signatus) beobachten können. Fluginnsekten sind häufig die ersten Tiere auf Stadtwildnis-Flächen. Nach einiger Zeit stellen sich Insektenfresser aus allen möglichen Tiergruppen ein.
Welche drei wichtigsten Erkenntnisse möchten Sie anderen Kommunen oder Projekten mit auf den Weg geben?
Erstens: Nutzen Sie – auch kurzfristige oder temporäre – Aufwertungsmöglichkeiten, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bietet. Warten Sie nicht auf die ideale Fläche, auf die niemand sonst irgendeinen Anspruch erhebt. Sie werden sie in der Stadt nicht finden.
Zweitens: Die Schönheit von Stadtwildnis-Flächen muss nicht zwingend in der Gestaltung liegen. Sie liegt aber ganz bestimmt im vielfältigen Leben, das auf solchen Flächen stattfindet.
Drittens: Beobachten Sie diese Flächen und ihre dynamische Entwicklung. Nutzen Sie natürliche Materialien und Vorgänge wie Naturverjüngung zur Bereicherung der Fläche mit zusätzlichen Strukturen. Lernen Sie von der Natur.
Gibt es Beispiele für (inter)nationale StadtWildnis-Projekte, von denen Winterthur gelernt hat?
Solche Beispiele sind uns nicht bekannt. Wir lernen selbst ständig dazu.
Welche zukünftigen Entwicklungen erwarten Sie für StadtWildnis in Winterthur und anderen Städten?
Ich nehme an, dass das Bedürfnis der urbanen Bevölkerung nach Naturerlebnissen und Naturbeobachtung vor der Haustür zunehmen wird, je dichter und bevölkerungsreicher unsere Städte werden. Außerdem orientieren sich die Vorstellungen davon, wie Grünflächen in Wohngebieten aussehen sollen, immer häufiger an den naturnahen Landschaften in der Umgebung. Die psychologischen Vorteile und die vielfältigen Ökosystemleistungen intakter, biodiverser Grünräume sind unerreicht und können durch keine (bezahlbaren) technischen Anlagen ersetzt werden.
Möchten Sie uns noch etwas mitteilen, dass wir nicht gefragt haben?
Mehr Wildnis wagen zahlt sich aus – für Mensch und Natur.
1 Ruderalstandorte sind vom Menschen beeinflusste, oft gestörte Flächen wie Brachen, Wegränder oder Baustellen, auf denen sich robuste Pionierpflanzen ansiedeln. Sie bieten vielfältigen Arten einen Lebensraum und fördern dadurch die Biodiversität im urbanen Raum.
2 TreeClumps sind kleine Baumgruppen oder Gehölzansammlungen, die typischerweise in offenen Landschaften (z. B. Wiesen, Felder, Parks) vorkommen. Sie schaffen Schatten, beeinflussen das Mikroklima positiv und bieten Lebensraum für verschiedene Arten.
3 Ein Tiny Forest ist ein dicht bepflanzter, biodiverser Mini-Wald – meist nicht größer als ein Tennisplatz – der auf kleinstem Raum ein stabiles, sich selbst erhaltendes Ökosystem bildet. Mit dutzenden heimischen Baum- und Straucharten bietet er Lebensraum für Insekten, Vögel und Kleintiere, verbessert das Mikroklima und schafft grüne Begegnungsräume mitten in der Stadt.
4 Symbiose (auch Mutualismus genannt) bezeichnet das enge Zusammenleben zweier oder mehrerer Arten, bei dem alle Beteiligten profitieren. Solche Partnerschaften gibt es zwischen Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen. Beispiele sind Flechten (Pilz und Alge) oder Mykorrhiza, eine Verbindung zwischen Pilzen und den Wurzeln höherer Pflanzen.
5 Parasitismus beschreibt das Zusammenleben zweier oder mehreren Arten bei dem nur einer gewinnt: der Parasit. Er ist vom Wirt abhängig. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Viren, die sich nur in Wirtszellen vermehren können.