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Reportagen, 20. August 2025

6 Minuten

Waldwandern in „Wild“ – unser Ausflug zum Urwald vor den Toren Saarbrückens

Ein Urwald in direkter Stadtnähe – und das in Deutschland? Saarbrücken macht vor, wie es geht. Dort darf sich seit den 90er Jahren der „Urwald vor den Toren der Stadt“ entwickeln – als Gemeinschaftsprojekt des saarländischen Umweltministeriums, dem SaarForst Landesbetrieb & dem NABU Saarland e.V.. Und die Bürger:innen? Findens klasse! Revierleiterin Helena Stein und Urwald-Ranger Karl Hermann nehmen uns mit auf eine Tour durch „ihren Urwald“.

13 Minuten S-Bahnfahrt vom Saarbrücker Bahnhof, drei Minuten anschließender Fußweg – schon beginnt die Wildnis in Saarbrücken. Auf rund 1000 Hektar wächst hier – mitten im Saarkohlenwald – ein neuer Urwald heran. Und damit ein ganz besonderes Stück Wildnis in Deutschland.

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Haltestelle Heinrichshaus Saarbrücken: Der Startpunkt für die Exkursion durch den Urwald vor den Toren der Stadt. Foto © Meike Schulz
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Gleich geht´s los: Revierleiterin Helena Stein und Urwald-Ranger Karl Hermann erzählen uns vorab die Geschichte des Urwalds und zeigen uns, wie groß das Gebiet ist und wo wir entlanggehen werden. Foto © Meike Schulz

Der Urwald ist das Ergebnis eines bundesweiten Aufrufs der NABU-Kampagne „Lebendiger Wald“ aus den 90er Jahren, die Waldbesitzer:innen dazu ermutigte, ihre Flächen ganz aus der Nutzung zu nehmen oder aber zumindest naturnah zu bewirtschaften. Nach der Ausweisung eines kleineren Teilgebietes als Naturschutzgebiet im Jahr 1997, ist das „Projekt „Urwald vor den Toren der Stadt“ 2002 offiziell: Auf der gesamten Fläche werden seitdem nur noch minimale Pflegemaßnahmen umgesetzt – zum Schutz der Besucher:innen. Sonst schweigen die Motorsägen.

Mensch und Urwald – ein Widerspruch?

Die Saarbrücker:innen sind in der Mehrzahl stolz auf ihren Urwald. Aber es gibt auch Herausforderungen im Miteinander von Mensch und StadtWildnis: „Verkehrssicherung ist hier kein einfaches Thema. Wir möchten so wenig wie möglich eingreifen und die Besucher:innen mit Hinweistafeln darüber aufklären, welche Gefahrenpotentiale der Wald birgt. Zu den sogenannten waldtypischen Gefahren zählen zum Beispiel tote Äste und Bäume. Da der Urwald nicht bewirtschaftet wird, haben wir hier allerdings besonders viel liegendes Totholz oder stehendes Totholz. “, erläutert Revierleiterin Helena Stein. Müssen die Menschen vor der Wildnis geschützt werden? Oder ist es umgekehrt? Hier wird die Debatte schnell philosophisch. Sollte Mensch den Wald also am besten gar nicht erst betreten? Doch, betonen die Revierleiterin und Urwald-Ranger Karl Hermann: Der Urwald ist mehr als ein Naturschutzgebiet. Er ist ein lebendiges Forschungs- und Bildungsprojekt, in dem Umweltbildung einen großen Stellenwert hat. „Das soll nicht nur Wildnis auf der Fläche sein hier, sondern auch Wildnis im Kopf“, betont Karl Hermann.
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verschiedene Aufnahmen von Totholz. Fotos © Meike Schulz

Auf schmalen Pfaden durch die Wildnis

Dass hier wenig in die Entwicklung der Natur eingegriffen wird, fällt sofort auf: Abgestorbene Bäume werden hier nicht weggeräumt, sondern bleiben liegen und werden als Totholz zu wertvollem Lebensraum für Insekten und Pilze. Wer hier entlanggeht, muss über den ein oder anderen querliegenden Stamm steigen oder matschige Stellen umgehen, kommt an Tümpeln vorbei. Je nach Besucher:innen - Aufkommen und Wetterbedingungen ändert sich die genaue „Wegeführung“ schon auch mal. „Die Wege sind mal breiter, mal schmaler. Und wenn ein Baum umfällt, kommen kleine Umgehungspfade dazu“, erklärt Revierleiterin Helena Stein das „Eigenleben“ der Trampelpfade, die hier breit angelegte oder sogar ausgebaute Waldwege ersetzen. Abstimmung mit den Füßen nennt man das hier.

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Auf schmalen Pfaden durch den Urwald. Foto © Meike Schulz
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Abenteuerwege durch die StadtWildnis. Foto © Meike Schulz

„Wir haben für die Wegeführung anfangs mit Künstler:innen aus dem Land-Art-Bereich zusammengearbeitet“, berichtet Urwald-Ranger Karl Hermann. „Die einzige Vorgabe war, spannende Stellen innerhalb des Waldes durch Pfade miteinander zu verbinden und dabei die bestehenden Forstwege möglichst auszuklammern. Am Ende sind wir dann tatsächlich mit einem Besen durch den Wald gelaufen, die ersten Pfade sind also durch Fegen entstanden“. Einer dieser besonders spannenden Orte im Wald ist der „kleine Fuji“. Über steile Stufen kann man diesen Mini-Berg mitten im Saarbrücker Urwald erklimmen – und erhält als Belohnung einen Ausblick über die Baumkronen.

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Pfad durch die StadtWildnis. Foto © Meike Schulz
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Himmelsleiter hoch zum "kleinen Fuji". Foto © Meike Schulz

Der Urwald als Zeitzeuge und Forschungslabor

Gleichzeitig zeigt der Saarbrücker Urwald auch Spuren der deutschen Geschichte: Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg prägen Teile des Gebietes. In ihnen entwickeln sich eigene kleine Biotope, an denen die Trampelpfade entlangführen. Aber auch über hundert Jahre alte Relikte aus dem ehemaligen Steinkohlebergbau sind hier noch zu entdecken, die sich die Natur nun Stück für Stück zurückerobert.

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Ein ehemaliger Bombentrichter hat sich zu einem Biotop entwickelt. Foto © Meike Schulz
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Landart verknüpft mit einem See, der sich in einer Grupe des ehemaligen Steinkohlebergbaus gebildet hat. Foto © Meike Schulz
Als uns die Pfade zu denriesigen 200 Jahre alten Buchen vorbeiführen, die hier wachsen, werden wir still: Sie beeindrucken uns zutiefst. Was sie bereits erlebt haben, ist für uns kaum vorstellbar. Aber sie sind auch Zeugen des Klimawandels: Vielevonihnen sterben ab –und das, obwohl sie sich noch gar nicht in der „Zerfallsphase“ befinden.
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Gegen diese alten Baumriesen wirken wir ganz klein. Foto © Pia Ditscher
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Blick von unten. Foto © Meike Schulz
„Ein Wald baut sich im Zeitverlauf auf. Insbesondere früher war ein Wirtschaftswald geprägt von Bäumen, die sich in der gleichen Phase befinden. In einem Naturwald ist das anders: Da findet man auf wenigen Quadratmetern Bäume, die geradein völlig unterschiedlichen Wachstumsphasen sind“, erläutert Revierleiterin Helena Stein. Wenn man das zulässt, kann man viel daraus lernen –vor allem auch für eine zukunftsfähige, Waldwirtschaft. „An mehrerenStandorten in Deutschland untersucht eine Forschungsgruppe verschiedener Universitäten die Artenvielfalt auf Waldflächen. Dabei werden bewirtschaftete und nicht bewirtschaftete Flächen verglichen. Der Urwald ist einer diese Forschungsstandorte und wir sind gespannt auf die Ergebnisse.“

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Helena Stein erklärt die Phasen natürlicher Waldentwicklung. Foto © Meike Schulz
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Infoschild zur Forschung des Forschungsverbandes BETA-FOR. Foto © Meike Schulz

Ohne Handy ins Wildniscamp

Einen besonders hohen Stellenwert haben im Urwald Kommunikation und Umweltbildung: Regelmäßig verbringen Schulklassen zwei bis drei Tage im eigens eingerichteten Wildniscamp, ganz ohne Strom und fließendes Wasser. Viele schlafen hier das erste Mal in ihrem Leben unter freiem Himmel und verbringen das erste Mal seit Langem Zeit ohne ihr Handy. „Das ist für die meisten tatsächlich erstmal eine Grenzerfahrung, ihre Handys abgeben zu müssen“, berichtet Helena Stein. Aber: Schon nach kurzer Zeit kommen die Kids in der „analogen“ Welt des Urwalds an – und vermissen TikTok & Co. plötzlich gar nicht mehr. „Es geht uns hier nicht vorwiegend darum, Fachwissen zu vermitteln – viele Kinder kennen auch nach dem Wildniscamp den Unterschied zwischen Eiche und Buche nicht genau. Unser Ziel ist es vielmehr, ihnen überhaupt mal wieder Lust auf Natur zu machen, sie zum Rausgehen zu animieren, ihnen zu zeigen, wie spannend Natur doch eigentlich ist“, betont Karl Hermann.

Es geht darum, die Natur hautnah zu erleben, Gemeinschaft zu spüren, die Wildnis mit allen Sinnen zu erfahren und in ihren Rhythmus einzutauchen – und das niedrigschwellig und ohne großen Aufwand. „Oft sind die Kids total überrascht, wenn sie nach zwei oder drei Tagen im Wildniscamp mit uns zurück zur Straßenbahn gehen. Dann merken sie erst wieder, dass die Zivilisation die ganze Zeit direkt um die Ecke war. Im Wald vergessen sie das ganz schnell und fühlen sich wirklich wie ‘mitten in der Wildnis’“.

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Das Wildniscamp. Foto © Meike Schulz
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Das Toilettenhäuschen im Wildniscamp. Foto © Meike Schulz

Weitere Infos rund um den Urwald vor den Toren Saarbrücken gibt es hier.

Um Menschen mit verschiedensten Interessen und Hintergründen in den Urwald zu „locken“, wurde außerdem in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ein innovatives Kommunikationskonzept erarbeitet. „Da gab es Veranstaltungen, die mit einem Vortrag starteten, mit einer literarischen Nachtwanderung weitergingen und zum Abschluss bekamen alle noch eine Mitternachtssuppe – und schon hat man die verschiedensten Menschen mit unterschiedlichsten Interessen mit dabei“, so Urwald-Ranger Karl Hermann. „Und wenn die dann einmal da waren, dann werden sie auch zukünftig auf Veranstaltungen aufmerksam – und kommen wieder“.

Der „Urwald vor den Toren der Stadt“ ist eine Einladung: Komm raus, entdecke die Wildnis, die direkt vor unserer Haustür wächst – und erlebe ein Stück ganz besondere Natur, die in direkter Nachbarschaft zur Stadt wieder Wildnis sein darf. Unser Fazit: Es lohnt sich allemal. Wir kommen wieder!

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